Multifunktionalität
Landwirtschaft produziert mehr als Lebensmittel und Rohstoffe. Weil etwa 60% der Landoberfläche des Planeten von der Land- und Forstwirtschaft genutzt werden, sind diese Wirtschaftszweige für die Funktionsfähigkeit unserer Ökosysteme entscheidend.
Im Jahr 2009 veröffentlichte eine Gruppe von 29 Wissenschaftlern in der Zeitschrift Nature einen wegweisenden Artikel: „A safe operating space for humanity“ – der sichere Betriebsbereich der Menschheit. Für neun kritische biophysikalische Stoffkreisläufe versuchen die Forscher, planetare Grenzen der menschlichen Belastung des „Systems Erde“ zu definieren. Jenseits dieser Grenzen drohen abrupte, globale Umweltveränderungen.
Darüber, wie viel das System Erde genau wegstecken kann, bevor es kippt, lasse sich trefflich streiten. In einem Update des Artikels 2015 warnen die Wissenschaftler, dass die Menschheit in vier von insgesamt neun Bereichen bereits deutlich jenseits des sicheren Betriebsbereiches operiert: beim Klimawandel, Biodiversitätsverlust, dem Eintragen von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre und Landnutzungsänderungen. Hier und für weitere der neun kritischen Systeme ist die Art und Weise unserer Agrar- und Lebensmittelproduktion jeweils der entscheidende Faktor.
Der Weltagrarbericht betont die enorme Umweltverantwortung der Landwirtschaft gerade auch deshalb, weil wir aus seiner Sicht in den letzten fünfzig Jahren allzu einseitig auf Effizienz- und Produktionssteigerung fixiert waren. Dabei haben wir aus den Augen verloren, dass unsere landwirtschaftliche Überproduktion die Grundlagen unserer Ernährung akut gefährdet. Landwirtschaft ist zugleich die Existenzgrundlage von mehr als einem Drittel der Menschheit und gestaltet die soziale Struktur ländlicher Räume. Nicht allein Arbeitsplätze, auch der Zusammenhalt der Gemeinden, ihr Grad an Selbstversorgung sowie ihre Widerstandskraft in Krisen und Katastrophen stehen dabei auf dem Spiel. Schließlich „produziert” Landwirtschaft für die meisten Menschen Heimat: Schönheit, Eigenheit, Geschmack, Geschichte und Tradition von Regionen und Kulturlandschaften formen unsere Identität bis hin zu spirituellen Werten. Kaum eine Zivilisation ist ohne ihre besondere Agrar- und Ernährungskultur denkbar. Dieser Reichtum an natürlicher Vielfalt, Landnutzung und Agrikultur trägt zum Wohlstand oder aber zur Verarmung einer Gesellschaft erheblich mehr bei als nur Lebensmittel und landwirtschaftliche Produkte.
Überlebenswichtig aber „wertlos“
Diese Multifunktionalität der Landwirtschaft wurde, so der Weltagrarbericht, von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch von Agrarunternehmen und den Landwirten selbst in den vergangenen Jahrzehnten häufig ignoriert und vernachlässigt. Allein Menge, Preis und Wirtschaftlichkeit der Produkte schienen zu zählen und waren über Jahrzehnte der alles beherrschende Gegenstand von Agrar- und Entwicklungspolitik, Forschung und Technologie. Viele der überlebenswichtigen Dienstleistungen und Güter, die die Landwirtschaft jenseits der Agrarproduktion erbringt und erhält – oder aber vernachlässigt und zerstört – sind von hohem Wert für die menschliche Gemeinschaft, vom Dorf bis zur Weltgemeinde. Weil sie aber nicht oder nur indirekt (z.B. Tourismus, Gesundheit) als Produkt gehandelt werden, bestimmt der Markt auch keinen Preis für sie.
Fakten & Zahlen:
https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/multifunktionalitaet.html
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